Positionspapier 3 / August 2015 / Herausgegeben vom Netzwerk Sozialer Aargau
Flüchtlinge als Ressource für unsere Zukunft
Einleitung
Das Netzwerk Sozialer Aargau sieht Flüchtlinge nicht als Problem, sondern als Ressource, zum Beispiel für unsere alternde Gesellschaft. Damit die bei uns Schutz suchenden Menschen einen Beitrag zu unserer Gesellschaft wie auch zu ihrer Herkunftsgesellschaft leisten können, muss ihre Entwicklung unterstützt und ihre Kompetenzen gefördert werden. Der Mensch und nicht sein Aufenthaltsstatus muss im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Aus diesem Grund wird in diesem Papier weitgehend auf eine Differenzierung beim Aufenthaltsstatus verzichtet.
Zusammenfassung und Forderungen
Das Netzwerk Sozialer Aargau fordert, dass Flüchtlinge vermehrt als Ressource für unsere Zukunft betrachtet werden. Diese Sichtweise führt dazu, dass integrative Massnahmen möglichst früh und gezielt eingesetzt werden müssen. Die dafür benötigten Ressourcen sind als präventive wie innovative Investitionen anzusehen. Jeder Mensch, unabhängig von seinem Aufenthaltsstatut, muss sich entwickeln und einbringen können
Das Netzwerk Sozialer Aargau fordert:
dass Integrationsmassnahmen möglichst früh ansetzen und die berufliche Qualifizierung priorisiert wird. Der Zugang zur Erwerbsarbeit soll für Asylsuchende, Vorläufig Aufgenommene und anerkannte Flüchtlinge durch den Kanton gefördert und erleichtert werden. Zwangsarbeit soll und darf aber kein Thema sein;
dass die personellen Ressourcen in der Betreuung von Flüchtlingen professionalisiert und verstärkt werden;
dass der Kanton für den gesamten Prozess, von der Ankunft der Flüchtlinge im Kanton bis zum Zeitpunkt, zu dem keine Bundesgelder mehr bezahlt werden, zuständig bleibt und ausreichend Ressourcen für diesen Aufgabenbereich bereit stellt. Die Gemeinden sollen die Betreuung von Flüchtlingen erst danach übernehmen, sofern diese zu diesem Zeitpunkt noch von der Sozialhilfe abhängig sind;
dass Freiwillige gezielt gesucht, geschult und eingesetzt werden, um die Integration der Zielgruppe zu unterstützen und mit zu begleiten.
Situationsbeschrieb
Der Schweiz fehlen Fachkräfte. Die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative fordert die Reduktion der Zuwanderung. Aufgrund dieser Ausgangslage wird es für die Schweiz und damit auch für den Kanton Aargau entscheidend sein, das vorhandene Potenzial der hier lebenden Ausländerinnen und Ausländer zu nutzen und zu fördern. Dies gilt insbesondere auch für Flüchtlinge, welche in der Schweiz eine neue Existenz aufbauen müssen. Leider werden heute die mitgebrachten Qualifikationen und Berufserfahrungen wenig anerkannt und oft gar nicht beachtet. Ihr Potenzial wird deshalb kaum ausgeschöpft.
Die heutige Gesetzgebung sieht explizit keine Integrationsmassnahmen vor, solange der Status noch nicht geregelt ist: Dies obwohl die Anerkennungsquote im ersten Halbjahr 2015 bei 28.1% lag. (Stand 30.6.15). Die Schutzquote für Eritreer/innen im Jahr 2014 betrug 85 Prozent und tendiert zu 89 Prozent. Der Zugang zu Ausbildungs- und Bildungsmöglichkeiten sowie zu Erwerbsmöglichkeiten wird kaum gefördert, sondern immer mehr eingeschränkt. Die Angebote des Kantons für den Asylbereich decken die Nachfrage bei Weitem nicht. So stehen nur begrenzt Deutschkurse zur Verfügung, das Gleiche gilt für berufsbildende Kurse.
Erklärungsansätze
Die unzähligen Verschärfungen der Asylgesetzgebung in den letzten Jahrzehnten haben bisher kaum spürbare Verbesserungen herbeigeführt. Lediglich einzelne nationale Gesetzesbestimmungen zeigen begrenzte Wirkung. Denn mit dem Asylwesen wird fast immer Symbolpolitik betrieben.
Diffuse Ängste vor Verunsicherung und Verlustängste der Bevölkerung werden auf die Asyl- und Flüchtlingsthematik projiziert und schaffen damit ein Klima der Abwehr und Verweigerung. Im Asyl- und Flüchtlingsbereich wird deshalb das Integrationsparadox besonders deutlich: Integrationsmöglichkeiten werden nicht gewährt, rechtliche Bestimmungen schränken sie ein, jedoch wird eine gute Integration später vorausgesetzt.
Migrationsströme aufgrund globaler Veränderungen sind heute weltweit Tatsache. Eine Lösung für diese globale Herausforderung überfordert die Staatengemeinschaft. Lösungen können jedoch nur in der internationalen Zusammenarbeit gefunden werden. Diese führt bei der Bevölkerung zu Gefühlen der Ohnmacht. Der Fokus der öffentlichen Diskussionen liegt auf politischen Massnahmen. Der einzelne Flüchtling, der Mensch, wird kaum wahrgenommen. Dort wo Beziehungen zu Asylsuchenden und Flüchtlingen aufgebaut werden, setzt sich die Bevölkerung wiederholt auch für diese ein.
Handlungsansätze und Massnahmen
Stärkung von integrativen Angeboten
Die Integration muss so früh wie möglich einsetzen. Wer über Wochen, Monate und manchmal gar Jahre untätig ist, wird träge, verliert Selbstbewusstsein, Agilität und Mobilität, was zu fatalen Verlusten von Kernkompetenzen für die Integration führt. Dies gilt insbesondere für junge Asylsuchende. Bei ihnen liegt im Rahmen von Bildungsangeboten der Fokus auf qualifizierter Facharbeit, die sowohl im Aargau als auch nach einer allfälligen Rückkehr im Herkunftsland eingesetzt werden kann (Ausbildungspraktika in handwerklichen Berufen etc.). Integrative Aktivitäten für Asylsuchende werden als Angebote zur Pflege von sozialen Kompetenzen und zur aktiven Lebensgestaltung gesehen. Diese haben für beide Perspektiven der Asylsuchenden (Verbleib oder Rückkehr) grosse Bedeutung. Im Mittelpunkt steht die Bildung, nicht nur als reine schulische Wissensvermittlung, sondern als Wissen über die neue Umgebung und die Förderung von Kommunikations- und Selbstkompetenzen. Es geht hier nicht nur um Deutschkurse bzw. Beschäftigungsprogramme. Wer aber in der Schweiz möglichst rasch arbeiten will, soll das auch können. Hier müssen Hürden abgebaut werden.
Verantwortung für die Betreuung der Flüchtlinge bleibt beim Kanton
Für anerkannte Flüchtlinge wurde beim Kanton ein Case Management Integration (CMI) eingerichtet. Dieser Ansatz ist sehr zu begrüssen, ressourcenmässig ist die Stelle jedoch ungenügend dotiert. Ihre Integrationsplanung basiert aufgrund der knappen Ressourcen nur auf einer punktuellen Erfassung der Situation. Integration ist jedoch ein Prozess. Dieser wird durch die wechselnden Zuständigkeiten wiederholt gebremst und unterbrochen. Dadurch gehen unnötig Zeit und Energie verloren. Das CMI könnte mehr Wirkung erzielen, wenn es die Fallführung über den gesamten Prozess behalten und begleiten würde. Dies würde auch den individuellen Integrations- und Entwicklungsprozess der Flüchtlinge unterstützen und so nachhaltig und schneller zu einer finanziellen Entlastung der öffentlichen Hand beitragen. Der Capability-Ansatz gemäss kantonaler Sozialplanung ist auch im Asyl- und Flüchtlingsbereich ein gangbarer Weg.
Einbezug von Freiwilligen in die Aufgaben der Regelstrukturen und Nutzung derer Potenziale
Der Mitwirkung durch die Zivilgesellschaft wird im Integrationsprozess von Flüchtlingen eine wachsende, bedeutende Rolle zugemessen. Bisher gab es wenig Zusammenarbeit zwischen den staatlichen Institutionen und den zivilgesellschaftlichen Akteuren im Asylbereich. Hier liegt Potenzial, das mit komplementären Angeboten genutzt werden kann. Um die Zivilgesellschaft zu erreichen und einzubinden, braucht es unbedingt Ressourcen für die Koordination und den Einsatz von Freiwilligen. Die Ressourcen dafür können beim Kanton oder bei einem Leistungserbringer angesiedelt werden.
Quellen
Caritas Schweiz, Luzern; HEKS Schweiz, Zürich; www.ag.ch, Asylstatistik Bund;
Bericht: Fachtreffen Fachpersonen im Asylbereich vom 5. Mai 2015, Verbesserung der bildungsorientierten Beschäftigung im Asylbereich im Kanton Aargau, verfasst durch die Anlaufstelle Integration Aargau
Positionspapier 5 / Juli 2017 / Herausgegeben vom Netzwerk Sozialer Aargau
Bezahlbarer Wohnraum für alle!
Zusammenfassung
Im Aargau wird rege Wohnraum gebaut, zum grössten Teil im gehobenen Preissegment. Günstiger Wohnraum ist hingegen knapp. Der Aargau kennt keine Politik des sozialen Wohnungsbaus, keine Mietzinsverbilligungen, wenig genossenschaftlicher Wohnungsbau und kaum raum- und städteplanerische Massnahmen, die gezielt eine „Durchmischung der Bevölkerung“ fördern. Es zeichnet sich eine zunehmende Segregation ab.
Das fehlende Angebot an bezahlbaren Wohnungen für finanzschwache Mietende kann in einzelnen Gemeinden wegen der hohen Mieten zu steigenden Sozialhilfekosten führen. Häufig legen die Sozialhilfebehörden tiefe Mietzinslimiten fest. Weil jede Gemeinde die Mietzinsrichtlinien selber festlegen kann, ist die „Verlockung“ gross, diese tief anzusetzen und so potenzielle Sozialhilfeempfänger fernzuhalten.
Oft ist es so, dass Gemeinden mit günstigem Wohnraum überdurchschnittlich hohe Sozialhilfekosten zu tragen haben. Diesem Risiko muss strukturell mit einem wirksamen Lastenausgleich begegnet werden. Der geplante, neue Finanzausgleich im Aargau geht hier viel zu wenig weit.
Das Netzwerk Sozialer Aargau fordert:
Kanton und Gemeinden ergreifen raum- und städteplanerische Massnahmen, die eine Durchmischung der Wohnbevölkerung fördern und einer Segregation zuvorkommen.
Kanton und Gemeinden fördern den Sozialen Wohnungsbau durch geeignete Massnahmen wie die Abgabe von Bauland im Baurecht, das Vermieten von eigenen Wohnungen an finanzschwache Mietende und die Förderung des genossenschaftlichen Wohnungsbaus.
Der Kanton legt Mietzinsrichtlinien für Sozialhilfe und Renten-Beziehende fest. Er orientiert sich dabei an den effektiven Marktpreisen. Diese Richtlinien sind für die Gemeinden verbindlich.
Der Kanton beobachtet die Sozialhilfepraxis der Gemeinden. Er ergreift Massnahmen, wenn Gemeinden mittels unlauteren Mitteln die Wohnsitznahme von Sozialhilfe-Beziehenden verhindern, respektive deren Wegzug provozieren (Umgehung des Abschiebeverbots gemäss Art. 10 ZUG).
Die Norm SIA 500 für hindernisfreie Bauten wird bei Um- und Neubauten konsequent umgesetzt. Der Kanton fördert den Bau von hindernisfreien Wohnungen für Menschen mit einer Behinderung und für Menschen im Alter.
Liegenschaftsbesitzer und Immobilienverwaltungen nehmen ihre soziale Verantwortung vermehrt wahr und stellen Wohnraum für finanzschwache Mietende bereit.
Erläuterungen
Der Aargau ist ein Zuwanderungskanton. 2016 wuchs die Bevölkerung um 8‘907 Personen oder 1,36 Prozent auf 662'224 Personen. Die aktuellen Einwanderungsgruppen im Aargau kommen aus den traditionellen Ländern im Süden (Italien, Spanien, Portugal) aus Deutschland, dem Norden und dem Osten. Es sind oft gut ausgebildete und zahlungskräftige Personen. Andererseits kommen per Familiennachzug auch einkommensschwache Gruppen in die Schweiz sowie mittellose Migranten und Flüchtlinge aus Krisenregionen und Kriegsgebieten. Neben dem Zuzug aus dem Ausland fällt auch die hohe Zuwanderungsquote aus den Nachbarkantonen auf, insbesondere aus dem Kanton Zürich. Die Wachstumsprognosen für 2035 sagen dem Aargau mehr als 740‘000 Einwohner voraus. Diese Zahlen machen klar, es wird im Aargau auch künftig viel zusätzlichen Wohnraum brauchen. Wenn man zusätzlich bedenkt, dass 1/8 der Bevölkerungen Menschen mit Behinderung sind, wird deutlich, dass hindernisfreies Bauen prioritär ist.
Im gehobenen Preissegment wird viel Wohnraum gebaut, gerade von institutionellen Anlegern wie Pensionskassen. Bezahlbarer Wohnraum für Menschen mit kleinem Budget bleibt künftig knapp, wenn keine Massnahmen dagegen ergriffen werden. Seit Jahren findet eine Konzentration von minder bemittelten Bevölkerungsschichten in Gemeinden und Quartieren mit günstigem Wohnraum statt. Das kann in einigen Gemeinden zu einer eigentlichen Ghettoisierung führen, die aus politischen und sozialen Gründen unerwünscht ist. Leben in solchen Quartieren überdurchschnittlich viele Sozialhilfeempfänger/innen strapaziert dies die Gemeindekassen erheblich, was die Ausgrenzung dieser Bevölkerungsgruppe verstärkt. Manche Gemeinde versucht die Sozialhilfekosten zu dämpfen indem sie die Mietzinsrichtlinien (die von der Sozialhilfe maximal bezahlten Mietkosten) so tief festlegt, dass sozialhilfeabhängige Menschen keine Wohnung finden und wegziehen müssen.
Nicht nur für Sozialhilfebezüger, auch für Menschen mit einer Behinderung ist der aktuelle Wohnungsmarkt im Aargau noch zu ausgrenzend. Nach wie vor werden Neubauten errichtet, die wenig oder gar nicht behindertengerecht sind. Menschen mit einer Behinderung werden somit aus einem Grossteil des Wohnungsmarktes ausgeschlossen. Es ist mitunter die Aufgabe der öffentlichen Hand, dieser Diskriminierung entgegenzuwirken und die Umsetzung von hindernisfreien Bauten auch für Private möglichst attraktiv zu machen.
Der freie Markt ist kaum steuerbar
Der Aargau gehört zu den leistungsstarken Kantonen des Mittellandes und überschneidet sich teilweise mit den Wirtschaftsregionen von Zürich und Basel. Die Knappheit von günstigem Wohnraum steigt auch im Aargau, die Mietkosten verteuern sich stetig, teilweise führt die Situation zu spekulativen Mietzinsen. Zudem werden viele Liegenschaften saniert und die Wohnungen danach teurer vermietet.
Begehrte Bau- und Wohnzonen sind sehr teuer und nur für Vermögende und Einkommensstarke erschwinglich. Weniger attraktive Wohngebiete - vorab in der Agglomeration - „leiden“ daher unter finanziell und sozial Benachteiligten Einwohnern. Das zieht eine Schwächung des Steuersubstrats und eine Erhöhung der Sozialkosten der öffentlichen Hand nach sich.
Die liberale Wohn-, Bau- und Mietpolitik führt zu hoher Flexibilität und einer schnellen Reaktion auf diesem Markt, was zu begrüssen ist. Der Wohnungs-Markt ist dadurch aber wenig steuerbar und bietet nichts an für einkommensschwache Nachfragende.
Fehlende Wohnpolitik
Finanziell und sozial Benachteiligte werden durch hohe Mietzinse übermässig belastet. Das kann zu Verschuldung und schliesslich zum Verlust der Wohnung führen. Eine neue, bezahlbare Wohnung zu finden, ist meist schwierig. Die Nachfrage nach günstigem Wohnraum ist gross und ein deutlicher Hinweis auf die prekäre Wohnsituation vieler sozial benachteiligter Menschen. Es braucht daher verstärkte Anstrengungen von den kantonalen und kommunalen Akteuren für den Erhalt preisgünstigen Wohnraums und zur Förderung des sozialen Wohnungsbaus, damit auch wirtschaftlich Benachteiligte besseren Zugang zum Wohnungsmarkt erhalten.
Sicherer Wohnraum ist eine Voraussetzung für die soziale und berufliche Integration
Sozialwissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass sichere und angemessene Wohnverhältnisse die Voraussetzung für Gesundheit und Integration sind. Wenn die Sozialpolitik für ihre Klientel eine gute Gesundheit und eine erfolgreiche soziale und berufliche Integration anstrebt, muss sie den Grundsatz „Housing first“ anwenden. Nur wer in einer sicheren und dauerhaften Wohnsituation lebt, ist zu diesen Anpassungsleistungen imstande.
Hindernisfreies Bauen
Durchmischte Wohnformen ermöglichen das Zusammenleben aller und fördern eine inklusive Gesellschaft. Damit eine Durchmischung entstehen kann, braucht es vielfältige Strukturen. Die Norm SIA 500 «Hindernisfreie Bauten» ist in der Schweiz die massgebliche Referenz für die Projektierung und Ausführung im Bereich Hochbau. Sie definiert wie gebaut werden muss, damit eine Baute oder Anlage als hindernisfrei (behindertengerecht) gilt. Gerade bei Wohnbauten wird die SIA Norm oft gar nicht angewendet. Bauherren und Baubehörden sind aufgerufen diese wichtige Norm konsequent umzusetzen.
Quellen
Bundesamt für Statistik, Statistik Aargau, Sozialalmanach 2014 Caritas Schweiz, HEKS Positionspapier Soziale Integration